„Cleeheim 774“: Martin Hanika hat die Chronik zum Jubiläumsjahr publiziert

Niederkleen / Oberkleen (ikr). „Die Scheunen und Ställe in den Ortskernen stehen fast alle noch, aber sie stehen leer. Der besondere Charme der Hüttenberger Hoftore ist noch sichtbar, aber sie haben ihre alte ursprüngliche Funktion verloren“. Damit leitet Martin Hanika das Buchprojekt ein, das den Wandel, die Veränderungen und auch Verwerfungen in den beiden Kleebachtal-Dörfern Niederkleen und Oberkleen beschreibt. Es ist eine Bilanz in persönlicher Verbundenheit: „Cleeheim 774“, die Chronik anlässlich der diesjährigen 1250-Jahr-Feierlichkeiten von Niederkleen und Oberkleen, hat er als Herausgeber und Hauptautor publiziert.

Das Buch bietet einen faszinierenden Einblick in die Geschichte der beiden Ortschaften. Es ist ein reich bebildertes Werk mit rund 200 Seiten, das sowohl historische und aktuelle Fotos als auch persönliche Erinnerungen enthält. „Wir haben ein schönes Buch fortgeschrieben“, betont Hanika, Jahrgang 1954, der die Zeit „aus eigenem Erleben“ kennt und damit ein bisher weitestgehend unbeschriebenes Kapitel der letzten 50 Jahre aufschlägt.

Der erste Teil des Buches ist eine Neuauflage des Jubiläumsbuches zur 1200-Jahr-Feier von 1974, verfasst von Karl H. Glaum, während der zweite Teil die Entwicklung der letzten fünf Jahrzehnte dokumentiert. Neben Hanika haben Doris Müller-Heinz und Hans-Joachim Röhrig sowie das kreative Team mit Gerhard Stahl als Layouter und Barbara Keden, von der viele Fotos stammen, gemeinsam ein lebendiges Zeugnis der Veränderungen in den beiden Dörfern geschaffen – und das alles in ehrenamtlicher Arbeit.

Welche Motivation muss man haben, als Laie ein solches Projekt anzugehen? „Na ja, mit der Fortschreibung des Jubiläumsbuches um das letzte halbe Jahrhundert war klar, dass es um unsere Zeit, um das Erleben unserer Generation geht. Und bald wurde deutlich, dass es einen solchen Wandel, in der Zusammensetzung der Dorfbewohner, der Wohnformen, des kirchlichen Lebens und des Arbeitens, vorher nicht gegeben hat, jedenfalls nicht in dieser kurzen Zeit“, sagt Hanika. Für fast alle im Ortskern sei damit auch die Abkehr von familiärer jahrhundertlanger Landwirtschaft verbunden gewesen, und damit ein Verlust, nicht nur ein gefühlter. „Ein Identitätsverlust einer ganzen Generation. Dies zu beschreiben war eine ganz wesentliche Motivation.“

Martin Hanika hat das Leben und den damit verbundenen Wandel im Dorf anschaulich und lebendig dokumentiert. Damit möchte er seine Leser auch zum Nachdenken anregen. Schon zu Beginn, in der Beschreibung der Bevölkerungsentwicklung, weist er auf einen bemerkenswerten Zusammenhang hin: „Die großen Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur folgten meist großen und oft weltweiten Ereignissen, Kriegen und Katastrophen. Etwa ein Drittel der Einwohner der beiden Dörfer nach Ende des 2. Weltkriegs waren Vertriebene aus dem Eger- und dem Böhmerland. Und daneben warteten die Familien auf den Bauernhöfen auf die Rückkehr ihrer Söhne aus der Gefangenschaft, meistens vergeblich. Viele waren gefallen, andere vermisst.“ Auch im historischen Teil des Buches ist über Opfer, Schrecken und Tod während der Kriegszeiten in den Dörfern nachzulesen, beispielsweise infolge der Auswirkungen der Napoleonischen Kriege.

Aber gab es nicht auch im ausgehenden letzten Jahrhundert erhebliche Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur? „Ja, mit der Auflösung der ehemaligen Sowjetunion kamen viele Spätaussiedler aus Kasachstan, die Russlanddeutschen. Sie kamen meist mit ihren Familien und trugen noch ihre alten deutschen Namen. Sie zogen oft in frühere Wohnungen der amerikanischen Soldaten, die nach der deutschen Wiedervereinigung die Ayers-Kaserne verlassen hatten. Infolge der Kriege im Nahen Osten wurden auch Flüchtlinge in den Dörfern untergebracht, ein Teil von ihnen blieb“, weiß der Autor. Dörfliches Leben habe sich in kultureller Vielfalt weiterentwickelt. Es benötige aber in seinem Inneren eine dauerhaft gegenseitige Verlässlichkeit und ein ebensolches Verständnis. Neu in einer Chronik ist die Geschichte der Rückkehr einer alten Oberkleener Familie nach ihrer Auswanderung im 19. Jahrhundert. Johannes Glaum zog es mit seiner jungen Frau in den russischen Kaukasus, und seine jüngste Enkelin Ella kehrte in den späten 80er Jahren wieder mit ihrer großen Familie aus Kasachstan zurück, einige nach Oberkleen.

Ein eigenes Kapitel widmet sich den über die Jahrzehnte veränderten Bauformen: „Die Dörfer sind größer geworden und nach außen hin gewachsen. Die Wohngebäude stehen frei, sind besser belichtet und die Wohnungen meist größer. Bäuerliche Vorratsspeicherung ist kaum mehr möglich. Ins Hintertreffen ist der alte Ortskern geraten, denn die Durchgangsstraße und der zunehmende Straßenverkehr sind geblieben. Die Aufgabe, den Dorfkern wieder angemessen mit dörflichem Leben zu versehen, ist noch nicht gelöst.“

Über die Situation der evangelischen Kirchen schreibt Hans-Joachim Röhrig, über die der katholischen Kirche Martin Hanika: „Die Jüngeren fallen von dem Glauben ab, der den Älteren in schweren Zeiten halt gab“, ist nur ein Aspekt der vielschichtigen Problematik. Doris Müller-Heinz thematisiert die „Landwirtschaft im Wandel“ und schildert in einem Essay über den „Tagesablauf einer Bauernfamilie“ die Erfahrungen aus ihrer Kindheit und Jugend, die auch von viel Arbeit und wenig Komfort geprägt war. Ein weiterer sehr lesenswerter Essay von Martin Hanika mit dem Titel „Die alte Buche“ lässt in sehr schönen, poetischen Worten die Geschichte eines Baumes über die Jahrhunderte lebendig werden und verbindet dabei feinsinnig und kunstgerecht historische Begebenheiten, aus dem Alltag der Dorfbevölkerung, aus Kriegszeiten, von Friedrich Ludwig Weidig, der in Oberkleen geboren wurde, und dem jungen Goethe auf seinem Weg nach Wetzlar. Dabei steht die Buche sinnbildlich für den Menschen. „Eine kleine Parabel“, verrät der Autor.

Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit dem Miteinander der Dorfgemeinschaft: „Gemeinschaftsfördernd waren zu aller Zeit die Vereine in den beiden Dörfern. Sie haben stets Menschen einander nähergebracht.“ Zum Schluss wagt der Herausgeber einen Blick in die Zukunft der beiden Dörfer der „Cleeheimer Marca“. Er ist überzeugt: „Ein Leben auf dem Land hängt im Besonderen davon ab, wie es von den Bewohnern mitgestaltet wird.“ Drei Themenfelder sind aus seiner Sicht im Hinblick auf eine positive Entwicklung von besonderer Bedeutung: „Zunächst sind die natürlichen Lebensgrundlagen zu achten und einer umfänglichen Nachhaltigkeit oberste Priorität einzuräumen.“ Die Lebensqualität werde bestimmt von Natur und Landschaft, von Wasser, Wald und Feld. „Dies wäre auch eine wesentliche Grundlage für eine künftig wieder verbesserte Lebens- und Nahrungsmittelversorgung aus der Region und aus den Dörfern heraus“, betont Hanika. Selbst-Versorgung über den Kartoffelanbau hinaus, Direktvermarktung, Holz aus dem heimischen Wald, nachhaltig bewirtschaftet, reduziere kritische Abhängigkeiten und halte Arbeit im Ort. „Und am Ende wird, glaube ich, entscheidend sein, die menschliche Verbundenheit im Dorfleben aufrecht zu erhalten und sie zu fördern. Sie ist die Grundlage, sie bildet die eigentliche Identität, auch in Zukunft. Dieses Buch möchte aufzeigen, dass menschliche Erfüllung nur in der Gemeinschaft und im Miteinander möglich ist.“ Und er fügt mit einem Schmunzeln hinzu: „Und damit im realen Leben“.